Sonntag, 15. Dezember 2013

Das Unsichtbare im Blick

"Eine ebenso komplexe Steinbrucharbeit, aber hier und in der Jetztzeit angesiedelt, leistet die Recherchekünstlerin Christine Lehmann in ihrem neusten Roman Die Affen von Cannstatt", schreibt Else Laudan in ihrem Essay "Die Unsichtbaren im Blick" über die Krimiliteratur in der Polar Gazette. 

"Es geht darin höchst aktuell-realistisch um Gefängnishaft und ihre Auswirkungen auf die Identität einer (bürgerlichen) Protagonistin, doch dahinter und parallel räumt die Autorin mit gewaltigen blinden Flecken unseres kollektiven Bildungshintergrunds auf. Im Visier steht hier nicht weniger als der patriarchale Mythos über ›Mutter Natur‹. Im Wechselspiel aus Erinnerungsarbeit und Gefängnistagebuch inszeniert Lehmann den Weg einer Frau, die mit Legenden und Vorurteilen ringt: Als Forscherin beobachtet sie im Zoo die matriarchal lebenden Bonobos, sucht den Mythos von der Wirklichkeit zu trennen, stößt jedoch im akademischen Kanon auf Widerstand und weicht – typisch normalsozialisierte Frau – dem Konflikt lieber aus.
Wenn sie die Wahl hat zwischen Unsichtbarkeit und Krieg, wählt sie die Bedeutungslosigkeit. Aber dann, als Gefangene in U-Haft, kann sie nirgendwohin ausweichen. Eingesperrt wie die Menschenaffen, die sie aus sicherem Abstand studiert hat, bleibt ihr nur das Schreiben. Beharrlich durchsucht sie ihre Vergangenheit nach einem Puzzleteil, das ihre Entlastung zur Folge haben könnte, und wird so zur Beforscherin ihrer eigenen Vorgeschichte. So gerät der fast puristisch geschriebene Knastkrimi subtil auch zu einer Art Schlüsselroman für das Infragestellen erworbener Deutungsmuster. Mit dem aktuellsten Kenntnisstand aus Soziologie und Naturwissenschaft unterfüttert, ergibt sich aus dem fesselnden Psychogramm der Ich-Erzählerin ein sezierender Blick auf traditionell Unsichtbares. Der Krimi Die Affen von Cannstatt ist eine von harten Fakten strotzende Allegorie über diverse Arten (weiblicher) Gefangenschaft und über die groteske Hegemonie patriarchaler Naturlegenden."